Psychosoziale Beeinträchtigungen durch Vitiligo: Dr. Ben-Anaya im Interview

Vitiligo-Ratgeber

Vitiligo betrifft nicht nur die Haut, sondern oft auch die Seele. Doch wie stark sind die psychosozialen Belastungen durch die Erkrankung und welche Strategien helfen Betroffenen im Umgang damit? Im Interview gibt Dermatologin Dr. Ben-Anaya Einblicke in die psychischen Herausforderungen, die Vitiligo mit sich bringen kann, spricht über die Bedeutung psychologischer Betreuung und gibt wertvolle Tipps für den Umgang mit der Erkrankung.

17.12.2024

Welche psychischen Belastungen erleben Sie bei Ihren Patient*innen?

Im klinischen Alltag sehe ich häufig, dass die psychische Belastung bei Patient*innen mit Vitiligo erheblich sein kann. Viele Betroffene berichten von einem verminderten Selbstbewusstsein, insbesondere wenn die depigmentierten Stellen an sichtbaren Körperstellen wie dem Gesicht, den Händen oder dem Hals auftreten. Dies führt nicht selten zu sozialer Unsicherheit, Schamgefühl oder dem Gefühl, ausgegrenzt zu werden. Zudem können Stigmatisierung und Missverständnisse in der Gesellschaft – beispielsweise die fälschliche Annahme, dass Vitiligo ansteckend sei – die psychische Belastung weiter verstärken. Manche Patient*innen entwickeln dadurch Angststörungen, depressive Verstimmungen oder ziehen sich sozial zurück.

Wie können psychische Belastungen wie Stress oder Depressionen den Krankheitsverlauf von Vitiligo beeinflussen?

Stress kann das Immunsystem stören. In der Folge können neue Vitiligo-Läsionen entstehen oder bestehende depigmentierte Areale sich ausweiten. Depressionen können die Bereitschaft der Patient*innen beeinträchtigen, regelmäßig Therapien durchzuführen, was die Behandlungsergebnisse negativ beeinflussen kann. Ein Teufelskreis aus Stress, fortschreitender Erkrankung und psychischer Belastung kann sich entwickeln, was die Lebensqualität weiter einschränkt.

Welche Rolle spielen psychologische oder psychosoziale Betreuung/Interventionen bei der Behandlung von Vitiligo?

Sie spielen eine zentrale Rolle! Das Ziel ist, die Lebensqualität der Patient*innen zu verbessern, das Selbstbewusstsein zu stärken und den Umgang mit psychischen Belastungen zu erleichtern.

Ich halte psychosoziale Interventionen für besonders wichtig, wie z. B. die Teilnahme an Selbsthilfegruppen oder Schulungen für Patient*innen und deren Eltern. Darüber hinaus sollten Entstigmatisierungskampagnen politisch stärker gefördert werden, insbesondere in Schulen, da Kinder mit Hauterkrankungen dort häufig Mobbing ausgesetzt sind und später posttraumatische Belastungsstörungen entwickeln können.

Wie würden Sie die Krankheitslast von Vitiligo im Vergleich zu anderen chronischen Hauterkrankungen beschreiben?

Die Krankheitslast von Vitiligo unterscheidet sich von der vieler anderer chronischer Hauterkrankungen. Obwohl Vitiligo in den meisten Fällen keine Schmerzen oder körperlichen Beschwerden verursacht, ist die psychische Belastung oft erheblich.

Ein Grund dafür ist, dass Vitiligo häufig als eine rein „ästhetische Erkrankung” oder sogar als „Lifestyle-Erkrankung” wahrgenommen wird. Diese Fehleinschätzung führt dazu, dass die Krankheit und die damit verbundenen Herausforderungen von vielen nicht ernst genommen werden. Für die Patient*innen bedeutet dies oft, dass sie nicht die notwendige Unterstützung und Empathie erfahren, was die psychologische Belastung weiter verstärken kann.

Wie kann sich die Krankheitslast über die Zeit verändern?

Die Krankheitslast kann sich im Laufe der Zeit dynamisch verändern und ist von mehreren Faktoren abhängig. Einerseits kann der Krankheitsverlauf selbst schwanken – manche Patient*innen erleben über Jahre eine stabile Phase ohne weitere Depigmentierung, während andere Phasen mit schnellem Fortschreiten der Erkrankung durchmachen. Andererseits spielt die persönliche und soziale Anpassung eine wichtige Rolle. Zu Beginn der Erkrankung empfinden viele Patient*innen eine hohe psychische Belastung, da die Diagnose oft mit Unsicherheit und Angst einhergeht. Mit der Zeit entwickeln jedoch manche Betroffene Mechanismen, um besser mit der Erkrankung umzugehen, sei es durch psychosoziale Unterstützung, Therapie oder Eigenakzeptanz.

Können Vitiligo-Betroffene an Begleiterkrankungen leiden? Wenn ja, welche?

Ja, Vitiligo-Betroffene können an verschiedenen Begleiterkrankungen leiden. Zu den häufigsten Komorbiditäten zählen: Schilddrüsenerkrankungen (z. B. Hashimoto, Morbus Basedow), Alopecia areata (kreisrunder Haarausfall), Neurodermitis, Schuppenflechte, Typ-1-Diabetes und rheumatoide Arthritis. Wichtig ist, dass Vitiligo-Patient*innen regelmäßig ärztliche Kontrollen wahrnehmen, um mögliche Begleiterkrankungen frühzeitig zu erkennen. Ich prüfe die Schilddrüsenparameter und Antikörper bei jeder neuen Vitiligo-Patientin bzw. bei jedem neuen Vitiligo-Patienten, die/der sich bei mir vorstellt. Sollten die Ergebnisse unauffällig sein, würde ich alle drei Jahre eine Kontrolle empfehlen.

Welche Strategien empfehlen Sie Patient*innen, um besser mit der Erkrankung umzugehen?

Ich bin der Überzeugung, dass das Wichtigste für Patient*innen darin besteht, ihre Erkrankung zu verstehen. Dazu ist es entscheidend, Expert*innen hinzuzuziehen, die sich ausreichend Zeit für eine umfassende Aufklärung nehmen.

Darüber hinaus sollte Isolation vermieden werden. Patient*innen und deren Angehörige sollten die Möglichkeit haben, sich im Rahmen von Selbsthilfegruppen und Vitiligo-Vereinen mit anderen Betroffenen auszutauschen und zu erkennen, dass sie nicht alleine sind.

Nicht zuletzt ist es von großer Bedeutung, frühzeitig mit der Behandlung zu beginnen, da es heute sehr effektive Therapieoptionen gibt.

Kurz und knapp: Was sind die wichtigsten Punkte, die Vitiligo-Betroffene hinsichtlich psychosozialer Beeinträchtigung, Krankheitslast und Lebensqualität wissen sollten?

  • Betroffene und ihre Angehörigen sollten wissen, dass die Krankheit nicht nur ästhetische, sondern auch emotionale und soziale Auswirkungen haben kann.
  • Es ist wichtig, sich frühzeitig über die aktuell verfügbaren guten Behandlungsmöglichkeiten bei Expert*innen zu informieren und Unterstützung zu suchen, z. B. durch Selbsthilfegruppen.

  • Mein letztes Wort ist Hoffnung! Die Zukunft sieht vielversprechend aus, da aktuell viele Wirkstoffe gegen Vitiligo in der Entwicklung sind.

Frau Dr. Ben-Anaya, vielen Dank für das Gespräch.

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